© Steffan Widstrand WWF
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WWF Living Planet Report: Untersuchte Wildtier-Bestände im Schnitt um zwei Drittel eingebrochen

Globaler Gesundheits-Check zeigt neuen Tiefstand: Untersuchte Bestände wildlebender Arten seit 1970 um durchschnittlich 68 Prozent gesunken – Haupttreiber sind Flächenfraß, Übernutzung, Entwaldung und illegaler Handel

Wien - Die Ampel steht auf Rot: Laut dem neuen Living Planet Report der Naturschutzorganisation WWF sind die weltweit untersuchten Populationen von Säugetieren, Vögeln, Amphibien, Reptilien und Fischen im Schnitt um über zwei Drittel eingebrochen. Der Living-Planet-Index beruht auf Daten von 4.392 Arten und 20.811 Wirbeltier-Populationen, deren Bestände seit 1970 durchschnittlich um 68 Prozent gesunken sind. In den am stärksten betroffenen Süßwasser-Lebensräumen haben die untersuchten Bestände sogar einen Verlust von im Schnitt 84 Prozent erlitten. Insgesamt fällt das Barometer des Living-Planet-Berichts in seiner 13. Auflage auf einen neuen Tiefstand. "Unsere Natur wird rücksichtslos ausgebeutet und zerstört, obwohl sie absolut systemrelevant ist. Das schadet nicht nur unzähligen Tieren, sondern auch unseren eigenen Lebensgrundlagen. Denn die Ernährungssicherheit und Gesundheit von Milliarden Menschen hängt direkt von intakten Ökosystemen ab. Werden sie weiter vernichtet, steigt auch die Wahrscheinlichkeit künftiger Pandemien“, warnt Georg Scattolin, Leiter des internationalen Programms beim WWF Österreich.

Zu den wesentlichen Treibern des Negativtrends zählen laut dem WWF-Report die Zerstörung und Übernutzung von Lebensräumen, die Entwaldung, der illegale Wildtierhandel und die Wilderei. Dazu kommen die negativen Folgen der menschgemachten Erderhitzung. Der WWF fordert daher einen grundlegenden Systemwechsel, um den systematischen Raubbau zu stoppen und innerhalb der planetaren Grenzen zu wirtschaften. „Wäre der Living-Planet-Index an der Börse, würde die größte Panik aller Zeiten ausbrechen. Sofort-Hilfe-Pakete der Politik wären die Folge. Genau das brauchen wir auch zum Schutz der biologischen Vielfalt“, verlangt WWF-Experte Scattolin. „Eine Wende ist möglich, erfordert aber einen globalen Naturschutzpakt nach dem Vorbild des Pariser Klimavertrags“, appelliert der WWF im Vorfeld der am 15. September startenden 75. UN-Generalversammlung.

„Einerseits gehören Arten und ihre Lebensräume überall besser geschützt, andererseits müssen wir an den Wurzeln der Probleme ansetzen und eine Ernährungswende einleiten. Das heißt: Lebensmittel sehr viel umweltfreundlicher erzeugen und konsumieren. Parallel dazu muss der extrem hohe Bodenverbrauch gestoppt werden“, fordert Georg Scattolin. Vor allem der Amazonas wird rücksichtslos abgeholzt, um neue Flächen für die Agrarindustrie und die Produktion von Futtermitteln zu gewinnen, die wiederum für die Tierhaltung nach Europa exportiert werden. „Auch deswegen sind die untersuchten Wildtier-Bestände in Süd- und Zentralamerika noch stärker geschrumpft als anderswo“, erläutert der Artenschutz-Experte.

Beispiele betroffener Arten

Zu den besonders gefährdeten Tieren gehört beispielsweise der Östliche Flachlandgorilla, dessen Bestände im Kongo seit 1994 um 87 Prozent zurückgegangen sind - vor allem aufgrund illegaler Jagd. Durch Wilderei und Beifang sind Bestände der Lederschildkröten seit 1995 um 84 Prozent gesunken. Der Afrikanische Graupapagei ist im Südwesten Ghanas fast ausgerottet worden (minus 99 Prozent seit 1992), weil er häufig gehandelt wird und seine Lebensräume zerstört werden. Um 86 Prozent eingebrochen sind die Bestände des Afrikanischen Elefanten im Selous-Mikoumi-Gebiet in Tansania, vor allem aufgrund der Elfenbein-Wilderei.

Gewässer und Feuchtgebiete sind am stärksten betroffen, weil diese Lebensräume massiv unter übermäßiger Wasser-Verschmutzung, Wasser-Entnahme und Verbauung leiden. Ein Beispiel ist die Population des Störs im Jangtse, der aufgrund von Dammbauten für Wasserkraftwerke um 97 Prozent zurückging. Derselbe Grund war vor Jahren maßgeblich für die Ausrottung des Chinesischen Flussdelfins verantwortlich. Darüber hinaus zeigen Beobachtungen und Langzeitstudien in Westeuropa und Nordamerika einen Rückgang der Insektenzahlen und ihrer Biomasse. In der Europäischen Union sind zum Beispiel zahlreiche Bestände der Grünland-Schmetterlinge seit 1990 um durchschnittlich 39 Prozent zurückgegangen.

Konkreter Artenschutz wirkt

Der Living Planet Report macht auch Hoffnung: Zum Beispiel sind die Bestände der Buckelwale im westlichen Südatlantik aufgrund des internationalen Walfang-Moratoriums gestiegen: 1958 waren nur mehr 450 Tiere übrig, jetzt gibt es wieder geschätzte 25.000 Individuen. Ähnliche Ursachen hat die Verdoppelung der Singschwäne in Großbritannien. Sie standen nach intensiver Bejagung am Rande der Ausrottung und haben sich durch bessere Schutzmaßnahmen wieder erholt. "Das zeigt: Natur- und Artenschutzmaßnahmen funktionieren, aber es braucht viel mehr davon. Der Mensch verursacht nicht nur das Problem, sondern hält auch den Schlüssel für die Lösung in den Händen", sagt WWF-Experte Georg Scattolin.

Flächenfraß zerstört Lebensräume in Österreich

Die Wildtierbestände gehen nicht nur in Regenwäldern und Meeren zurück, sondern auch in Österreich, wo es im Langzeit-Vergleich besonders massive Einbrüche gibt. Neben der Übernutzung durch intensive Landwirtschaft ist vor allem der hohe Bodenverbrauch ein wachsendes Problem. Von fossilen Großprojekten im Straßenbau über Skigebietsverbauungen bis zu immer neuen Supermärkten am Ortsrand verliert Österreich tagtäglich im Schnitt 13 Hektar Boden. „Österreich ist schon lange kein Umweltmusterland mehr. Der Flächenfraß zerschneidet und zerstört wertvolle Lebensräume für Wildtiere und beraubt sie damit ihrer Lebensgrundlage“, kritisiert WWF-Bodenschutz-Sprecherin Maria Schachinger. Besonders schlecht ist es um die Flüsse bestellt, die vor allem durch den extremen Ausbau der Wasserkraft immer stärker belastet werden. Nur noch 15 Prozent der Flüsse sind ökologisch intakt. Laut einer BOKU-Studie gelten rund 60 Prozent der heimischen Fischarten als gefährdet, stark gefährdet oder sogar vom Aussterben bedroht. „Wir haben beim Bodenverbrauch jedes naturverträgliche Maß überschnitten. Daher braucht es auch hier einen Systemwechsel“, fordert Schachinger.

Hintergrund zum Living Planet Report

Der Living Planet Report zeigt den ökologischen Gesundheitszustand der Erde und Wege aus der Biodiversitätskrise. Die Studie wird seit 1998 vom WWF (World Wide Fund for Nature) veröffentlicht, seit 2000 erscheint sie alle zwei Jahre. Die aktuelle 13. Ausgabe hat der WWF gemeinsam mit der Zoological Society of London erstellt.

Anhand der Auswertung von aktuell 4.392 Arten und 20.811 Populationen zeigt der Living Planet Index 2020 einen durchschnittlichen Rückgang der Bestände um 68 Prozent im Zeitraum von 1970 bis 2016. Zum Vergleich: Im ersten Living Planet Report lag der ermittelte Rückgang noch bei 30 Prozent für den Zeitraum 1970 bis 1995. Generell gilt: Die prozentuale Veränderung spiegelt die durchschnittliche proportionale Veränderung der Größe der Bestände über einen längeren Zeitraum wider - nicht die Anzahl der verlorenen Einzeltiere.

Der vollständige Living Planet Report 2020 und eine deutschsprachige Kurzfassung sind als Download unter diesem Link verfügbar: www.wwf.at/living-planet-report-2020.


Artikel Online geschaltet von: / Doris Holler /