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© pixabay.com | Free Photos | Die Theologen haben aus der ursprünglichen Frohbotschaft Jesu im Laufe der letzten zwei Jahrtausende eine Drohbotschaft mit Geboten und Verboten gemacht. Jesus aber machte Angebote für ein besseres Leben, die heute aktuell und wichtig sind. Es kommt darauf an, Jesus heutig zu machen.

Die Kirchenflucht

Jesus sprach Aramäisch, es war seine Muttersprache und vor 2000 Jahren die Hauptsprache im gesamten Nahen Osten. Das Neue Testament ist aber in allen Sprachen der Welt aus dem Griechischen übersetzt. In viereinhalb Milliarden Auflagen.

Der Aramäisch-Experte und Theologe Günther Schwarz (2009 gestorben), war mit der klassischen Übersetzung unzufrieden und hat 50 Jahre täglich Aramäisch gelernt, um Jesus in seiner Muttersprache besser zu verstehen. Dabei kam er zur Erkenntnis, dass etwa die Hälfte aller Jesus-Worte in den Evangelien falsch übersetzt oder gar bewusst gefälscht sind.

Sein erschütterndes Fazit: „Was die Christen glauben, Jesus lehrte es nicht! Und was Jesus lehrte – die Christen wissen es nicht“. Über den aramäischen Jesus hat der Theologe 20 Bücher geschrieben und circa 100 wissenschaftliche Aufsätze. Er hat seine Erkenntnisse allen deutschsprachigen Bischöfen geschickt. Reaktion: Null.

Deshalb will ich als Journalist mit meinen Jesus-Büchern über die Erkenntnisse von Günther Schwarz aufklären.

Als ich 2010 zum ersten Mal ein Buch von Günther Schwarz las, war auch ich skeptisch. Aber das Thema hat mich schließlich doch so gepackt, dass ich zwei Jahre lang alles gelesen habe, was der weltweit anerkannte Aramäisch-Experte über den Ur-Jesus geschrieben hat. Und ich fand ein neues, faszinierendes und sehr zeitgemäßes Jesus-Bild. Nichts ist so schwer, wie lebenslang eingeübte Glaubensüberzeugungen loszulassen.

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Sind die Evangelien tatsächlich voller Fake News?

Muss der Bestseller aller Bestseller, das meist gekaufte Buch der Welt,  neu geschrieben werden? Richtig ist: Wenn die Worte nicht stimmen, ist die gesamte Botschaft falsch. Liegt hier vielleicht die wahre Ursache für die derzeitige dramatische Austrittswelle aus den beiden großen Kirchen? Ist die Aufregung über die aktuellen Missbrauchsfälle nur vordergründig? Wie Existenz gefährdend die Entwicklung für beide Konfessionen ist, zeigt ein Blick auf die Austrittszahlen der letzten Jahrzehnte, welche das Statistische Bundesamt errechnet und für die nächsten Jahrzehnte in gleicher Weise fortgeschrieben hat.

Selbst Kardinal Reinhard Marx sagt bei seinem Rücktrittsangebot an den Papst, seine katholische Kirche sei an einem „toten Punkt“ angekommen. Der wahre Grund für die Kirchenflucht ist ein spiritueller und religiöser. Kirche und Gesellschaft sind sich immer mehr entfremdet. Warum wohl? Tatsächlich sind die real existierenden Kirchen spirituell ausgetrocknet wie ein Schwamm.

Beispielhaft für die Kirchenflucht ist eine Begründung der bisher überzeugten Katholikin und Kabarettistin Carolin Hebekus, die jetzt aus ihrer Kirche ausgetreten ist. Sie wurde gefragt: „Kennen Sie auch etwas Lustiges in der Bibel?“ Ihre Antwort: „Ja, eine Jungfrau, die mehrere Kinder geboren hat“.

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Dabei ist dieses Rätsel mit Hilfe des Aramäischen ganz einfach zu lösen. In Jesu Muttersprache gibt es überhaupt kein Wort für „biologische Jungfrau“. Im Aramäischen heißt es schlicht „junge Frau“.  Klingt einfach, wird aber sofort zum Problem, wenn man bedenkt, dass einem der führenden und populärsten katholischen Theologen, Eugen Drewermann, die Lehrerlaubnis entzogen wurde, weil er nicht an die Jungfrauschaft der Mutter Jesu glauben wollte. Ähnlich ging es Hans Küng, weil er nicht an die „Unfehlbarkeit“ des Papstes glauben konnte.

Schwieriger wird das Übersetzungsproblem bei anderen Stellen in der Bibel, die Sie zuhause haben, liebe Leserin und lieber Leser. Bei Matthäus 10,34 finden Sie den schrecklichen, angeblich von Jesus stammenden Satz: „Denn ich bin nicht gekommen, Frieden zu bringen, sondern das Schwert“. Das soll der Pazifist der Bergpredigt gesagt haben? Jesus ein Kriegstreiber?

Aus dem Aramäischen übersetzt heißt dieses Jesus-Wort: „Ich bin nicht gekommen, Harmonie zu verbreiten, sondern Streitgespräche zu führen“. Das passt viel eher zu dem streitfreudigen Pazifisten aus Nazareth, ist jedoch das Gegenteil dessen, was in 4,5 Milliarden Bibeln in der ganzen Welt steht und womit Kirchenfürsten „Heilige Kriege“ oder „Gerechte Kriege“ gerechtfertigt und Bomben, selbst die Atombomben von Hiroshima und Nagasaki, gesegnet haben. Jesus aber hat die Friedenstifter seliggepriesen und niemals die Kriegstreiber und Schwert-Ideologen.

Oder die Vaterunser-Bitte „…und führe uns nicht in Versuchung“

Ist der Gott Jesu, der uns liebende Vater, ein Zyniker und Sadist, der uns in Versuchung führen will? In seiner Muttersprache hat Jesus so gebetet: „Und führe uns in der Versuchung“. Das ist etwas ganz anderes. Auch Papst Franziskus hat 2016 in einem Buch über das Vaterunser allen Bischöfen vorgeschlagen, das herkömmliche Vaterunser zugunsten des Aramäisch-Textes zu ändern. Er könne nicht an einen Gott glauben, der uns in Versuchung führen will, so Papst Franziskus. Die italienischen, die französischen, die portugiesischen und die brasilianischen Bischöfe haben ihr Vaterunser gemäß dem Papst-Vorschlag geändert, nicht aber die deutschen beider Konfessionen. Gegenüber Bild am Sonntag sagte die frühere Bischöfin Margot Käsmann sinngemäß: Wir wollen doch die Tradition nicht ändern! Wenn die Tradition wichtiger ist als Jesus in einer so zentralen Frage wie der des Gottesbildes im Vaterunser, dann laufen die Gläubigen den Kirchen zurecht davon. Dann sind die Kirchen wirklich nicht mehr zu retten. Als junger Theologiestudent habe ich oft den Satz gehört: „Ecclesia semper reformanda“ – Die Kirche muss immer erneuert werden. Aber wehe, das versucht jemand.

Menschen, die in meinen Jesus-Büchern die „neue“ Übersetzung aus dem Aramäischen lesen, schreiben mir zu Hunderten, dass dabei „lebenslange“ Lasten von ihnen abgefallen seien, die ihnen von Priestern oder Religionslehreren aufgelegt worden waren. Meine Jesus-Bücher wurden allein in Deutschland zwei Millionen mal verkauft und in 12 Sprachen übersetzt. Ein 75-jähriger katholischer Geistlicher ließ mich wissen, er sei auf dem Weg zum Atheisten gewesen. Doch durch den aramäischen Jesus könne er wieder glauben.

Gütersloher Verlagshaus
© Gütersloher Verlagshaus

Noch zwei gravierende Beispiele fataler Falschübersetzungen: Bei Matthäus 5,22 lesen wir, wer zu seinem Bruder sagt: „Du gottloser Narr, der soll dem Feuer der Hölle verfallen“. Gerade in diesen Tagen klagte mir ein Priester, dass er wegen solcher Bibelstellen „Angst vor der Hölle“ habe und nachts seit langem nicht mehr schlafen könne. Statt die Frohbotschaft Jesu zu verkünden, wird mit Höllenangst gedroht.

Ähnlich Markus 16,16. Hier heißt es in der offiziellen Bibel: „Wer nicht glaubt, wird verdammt werden“. Jesus hat nie jemand verdammt. Das ist ein kirchliches Paradebeispiel für die Erpressung zur Taufe und zum christlichen Glauben. Der tolerante sowie Freiheit und Liebe predigende Jesus hat so etwas nicht gesagt. 

Ein besonders katastrophales Beispiel gefälschter Übersetzung betrifft Judas. Theologen und Kirchenführer haben ihn im Laufe der Jahrhunderte zum „Verräter“ gestempelt.

Mehr noch: Sie haben Judas mit „den Juden“ und „den Gottesmördern“ gleichgesetzt. Günther Schwarz hat nachgewiesen, dass historisch darauf der gesamte Antisemitismus und Antijudaismus zurückzuführen ist.

„Was die Christen glauben, Jesus lehrte es nicht! Und was Jesus lehrte – die Christen wissen es nicht“

Die wirkliche Geschichte zwischen Jesus und Judas, wie sie uns im Aramäischen überliefert ist: Als einziger der 12 Apostel kannte sich Judas in Jerusalem aus. Deshalb schickte ihn Jesus zu den Hohepriestern. Dem deutschen Wort „verraten“ liegt das griechische Wort „paradidomai“ zugrunde. Es kann aber genauso mit „übergeben“ übersetzt werden. Es fällt auf, dass dieses Wort an allen Stellen, wo es in den vier Evangelien mit Judas in Verbindung gebracht wird – das ist 32mal – im Deutschen mit „verraten“ übersetzt wird. Aber an vielen anderen Stellen – insgesamt 17mal –  wird es mit „übergeben“ übersetzt.

So wurde Judas bewusst zum Verräter gestempelt. Doch Judas und Jesus liebten sich. Aber der „Verräter“ war 2000 Jahre lang die Projektionsfigur aller Antisemiten – bis zu den Nazis, bis zum Holocaust und bis zu Auschwitz. Es ist hohe Zeit, diese Geschichte neu zu erzählen. Für den 2018 gestorbenen populären israelischen Schriftsteller Amos Oz ist die Geschichte des Judas als Jesus-Verräter „das Tschernobyl des Antisemitismus“.

Seit 2000 Jahren wird Judas von Christen mit Schmutz beworfen ähnlich wie der Jude Jesus vor 2000 Jahren von jüdischen Theologen. Der „Verräter“ war in Wirklichkeit Jesu bester Freund, den er um einen letzten Freundschaftsdienst gebeten hat. Der eigentliche Verräter war nicht Judas, sondern Petrus, der Jesus verleugnete „ehe der Hahn dreimal krähte“ (Mk 14,72). Erst heute bekommt Judas mit einer richtigen und fairen Übersetzung die Anerkennung, die er verdient. Judas hat Jesus nicht verraten, obwohl dies noch immer in allen vier Evangelien so fürchterlich falsch steht. Er hat ihn in Absprache mit Jesus übergeben. Walter Jens in seinem letzten Roman: „Ohne Judas kein Kreuz. Ohne Kreuz keine Erfüllung des Heilsplans. Ohne Judas keine Kirche. Keine Überlieferung ohne diesen Überlieferer“. Der Judaskuss war ein Freundschaftskuss. Ohne Judas kein Karfreitag und wahrscheinlich auch kein Ostern. Und wohl kein Christentum.

Benevento Publishing
© Benevento Publishing

Der Unterschied zwischen Griechisch und Aramäisch war vor 2000 Jahren ähnlich groß wie heute der Unterschied zwischen Arabisch und Deutsch.

Wenn ein japanischer Germanist Goethe verstehen will, liest er „Faust“ wahrscheinlich nicht auf Chinesisch, sondern auf Deutsch. Deshalb lautet meine Bitte an Papst und Bischöfe: Lasst das Evangelium endlich in die Muttersprache Jesu rückübersetzen und rehabilitiert Judas ganz offiziell beim nächsten Konzil ebenso wie Maria Magdalena, die keine Hure war, wie es in den Evangelien heißt, sondern Jesu engste Vertraute und Gefährtin wie es in anderen Quellen steht (siehe auch DIE WELT vom 31. März 2018). Die heutige Welt braucht eine Jesus-Renaissance. Dafür hat Günther Schwarz bereits gute und wichtige Vorarbeit geleistet.

Die Kirche ist krank. Aber Jesus lebt.

Quelle

FRANZ ALT 2021 | Erstveröffentlichung „DIE WELT“ | 10. Juli 2021

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