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infosperber.ch | Sebastian Monsalve, Juan David Hoyos

© infosperber.ch | Sebastian Monsalve, Juan David Hoyos | Visualisierung des Parque del Río Medellín.

Kolumbien: Medellín kühlt sich grün

 Die zweitgrößte kolumbianische Stadt hat Temperaturen um zwei Grad reduziert und will die grünste Stadt Südamerikas werden.

Noch vor wenigen Jahrzehnten war Medellín einer der gefährlichsten Orte der Welt. Heute gewinnt die Stadt Preise für vorbildliche Stadtgestaltung. Wer bei Kolumbiens zweitgrößter Stadt nur an Gewalt, Kokain und Pablo Escobar denkt, hat eine Menge verpasst.

Unter anderem hat es die Millionenstadt geschafft, die Temperatur durch umfangreiche Stadtbegrünung an heißen Tagen um mehrere Grad zu senken, was weltweit Beachtung findet. Hitzewellen gehören mittlerweile zu den ernstzunehmenden Risiken weltweit. Von Adelaide bis Vancouver müssen sich vor allem Großstädte mit steigengenden Temperaturen arrangieren.

Mehrere Auszeichnungen für grüne Städteplanung

Medellín hat damit schon vor einigen Jahren begonnen. Das Klima in der südamerikanischen Stadt ist zwar ganzjährig frühlingshaft mild, teilweise kann es aber bis zu 38 Grad heiß werden. Mit beachtlichem Tempo pflanzte die Stadt 8300 Bäume und mehr als 350‘000 tropische Pflanzen entlang 18 ausgewählter Straßen und zwölf Bachläufen. Sie legte Fassadenbegrünung an öffentlichen Gebäuden an und baute mehr als 100 neue Parks.

30 «grüne Korridore», die 2017 von Medellíns damaligem Bürgermeister geplant wurden, bilden ein 20 Kilometer langes, miteinander verbundenes Netz schattiger Wege. Das 16,3-Millionen-Dollar-Projekt senkt die Temperatur an warmen Orten um bis zu drei Grad, reduziert die Luftverschmutzung und schluckt nach Angabe der Stadt pro Jahr und Korridor 160‘787 Kilogramm CO2. Der Hitzeinsel-Effekt der Stadt soll sich in den kommenden Jahrzehnten noch um weitere vier bis fünf Grad reduzieren.

© infosperber.ch | Martina Gschweng | Die Plaza Cisneros im Zentrum von Medellín 2019.

Für das Konzept der grünen Korridore wurde die einst gefährlichste Stadt der Welt mehrmals ausgezeichnet. 2019 erhielt Medellín einen Preis der Ashden Foundation, die transformative grüne Projekte weltweit auszeichnet. Schon 2013 war die Stadt mit den 2,6 Millionen Einwohnern vom Urban Land Institute  zur innovativsten Stadt der Welt gekürt worden, vor Tel Aviv und New York.

Medellíns nächstes Ziel ist es, die grünste Stadt Südamerikas zu werden. Bis 2030 will die Stadt dafür ihre CO2-Emissionen um 20 Prozent verringern, öffentliche Verkehrsmittel komplett elektrifizieren, die Anzahl der Linien verdoppeln und 50 Prozent mehr Velowege bauen.

Vom Drogennest zur Tourismusdestination

Schon kurz nach den Gewaltexzessen der Narco-Ära hatte Medellín in den Nullerjahren viel Geld investiert, um lebenswerter zu werden. Die Stadt baute Bibliotheken, Schulen und Sportplätze in den gewaltbelasteten Armenvierteln und investierte in Sozialprogramme. Der öffentliche Verkehr wurde modernisiert. Medellín betreibt das einzige U-Bahn-System Kolumbiens, hat inzwischen eine Flotte von 69 elektrischen Bussen und etliche Velowege.

Ein Highlight für die inzwischen zahlreichen Touristen sind die Seilbahnen, die die ärmeren Viertel an den Berghängen mit dem Zentrum verbinden. Bilder aus den Gondeln der «Metrocables» sind bei einem Besuch quasi Pflicht. In früheren No-Go-Zonen können sich Touristen tagsüber relativ sicher bewegen, zwischen Street-Art und Pocket-Parks sei das sogar sehr erholsam, schreiben Blogger und Journalisten, die Medellín besucht haben.

Dem grünen Wandel ging ein sozialer Dialog voraus

Die Wandlung Medellíns unterstützt haben nicht zuletzt die zivilgesellschaftlichen Gruppen, die sich in den Jahren der Gewalt zusammengefunden hatten. Aus purer Notwendigkeit ersetzten sie in den armen Comunas bis in die Nullerjahre die wenig funktionierende Regierung. Initiativen und Nachbarschaftskollektive, auf denen der soziale Urbanismus aufsetzen konnte, brachten Tanz, Musik, Graffiti und Theater in den öffentlichen Raum.

Aus ihren Reihen kommt aber auch Kritik an der vorbildlich grünen Entwicklung. Neben Stiftungsgeldern und internationaler Aufmerksamkeit gehe der soziale Wandel der Stadt vergessen, klagen die Bewohner der Armenviertel. Mancherorts gebe es noch immer kaum staatliche Strukturen. Die Zahl der Gewaltdelikte sei trotz großer Verbesserungen noch immer hoch. Medellín müsse aber für alle lebenswert und für alle sicher sein.

Kritik am «grünen Prestigeprojekt»

Den derzeit regierenden Politikern, befürchten viele, sei der internationale Erfolg zu Kopf gestiegen, dazu kommt tiefgreifendes Misstrauen in die staatliche Verwaltung. Die Stadtplanung befasse sich zunehmend mit Bau- und Prestigeprojekten. «Mucho cemento» allein brächte aber nichts.

Auch in der Innenstadt hat sich der grüne Wandel noch nicht vollständig durchgesetzt. Velowege und Leihräder werden nur langsam akzeptiert, während sich daneben der Verkehr staut. Und natürlich gibt es auch Verlierer, Taxifahrer beispielsweise, denen durch verkehrsberuhigte Straßen der Verdienst verloren ging.

© infosperber.ch | Antonio Jiménez/MedellinGuru | Trotz grüner Korridore so nervig wie überall: Rushhour in Medellín im Februar 2019.

Kritik kommt auch aus der Politik. Für luftige Ankündigungen weiterer Transformationsprojekte sei nach den Ausgaben der Coronazeit nicht genügend Geld da, bemängelt beispielsweise Daniel Duque, Stadtratsmitglied der linksgerichteten Partei Grünes Bündnis, mit Blick auf die Haushaltsplanung. Kritik gibt es auch an den Elektro-Bussen, die in China gefertigt werden, und an der fehlenden Gesamtplanung für die Region.

Vorbild für andere grüne Städte weltweit

Viele umweltschädliche Industrien, von denen die ganze Region profitiere, lägen schlicht im Umland, kritisiert beispielsweise der Umweltaktivist Daniel Suarez Montoya gegenüber «Al Jazeera». Und weil die Bauvorschriften in Medellín verschärft worden seien, wüchsen nun andere Städte überproportional schnell.

Diese Kritik zeigt aber auch, dass viele Einwohner Medellíns die Entwicklung zur «Eco-City» zwar gerne anders hätten, aber kaum rückgängig machen wollen. Auf internationaler Ebene dient das Korridor-Projekt als Modell und Anregung für Städte wie Mailand oder Athen, wo sommerliche Hitze zu den dringendsten Problemen der Stadtplaner gehört.

Quelle

Der Bericht wurde von der Redaktion „INFOsperber.ch“ (Daniela Gschweng) 2021 verfasst – der Artikel darf nicht ohne Genehmigung weiterverbreitet werden! 

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