© AEE Intec/ Lufbild Kläranlage Gleisdorf
© AEE Intec/ Lufbild Kläranlage Gleisdorf

Kapfenberg und Gleisdorf holen mehr raus

Die meisten Kläranlagen nutzen bereits Biogas aus den Faultürmen zur Deckung ihres Energiebedarfs. Doch das Potenzial reicht weit darüber hinaus.

© AEE Intec/ Schema Kapfenberg
© AEE Intec/ Schema Kapfenberg

Um es zu heben, muss man über Systemgrenzen hinweg denken. Die Gemeinden Kapfenberg und Gleisdorf zeigen, wie das funktioniert. Das Institut AEE INTEC ist in beiden Projekten in koordinierender Funktion beteiligt.

Die Kleinstadt Kapfenberg in der Steiermark wächst. Am Ufer der Mürz entsteht gerade das Projekt „Riverside“ mit 220 Wohnungen, davon 64 in sanierten Altbauten. Rund 850 MWh Wärme werden die neuen Wohnungen pro Jahr brauchen. Die Stadtwerke wollen das neue Viertel mit CO2-freier Fernwärme beliefern. Seit Anfang 2021 stammt diese zum Teil aus einem Biogas-Blockheizkraftwerk der Kläranlage, die auf der anderen Seite des Flusses liegt. Damit dieser Anteil ab 2022 noch deutlich steigen kann, sollen in der Kläranlage Prozesse und die Energieversorgung angepasst werden.
Die neue Leitung verbindet nicht nur die Flussufer, sondern bringt auch die Infrastrukturen für Wasser und Energie zusammen. Diese Verzahnung ist zentrales Anliegen mehrerer Forschungsprojekte des Forschungsinstituts AEE INTEC aus Gleisdorf.

Von der Abwasserreinigung zur Systembetrachtung

Die Kläranlage in Kapfenberg nutzt das anfallende Biogas bereits seit Langem in einem BHKW. Dieses liefert 60 Prozent des vor Ort benötigten Stroms und 100 Prozent der Wärme. Betrachtet man nur die Kläranlage, scheint das auf den ersten Blick eine gelungene Lösung.
Doch in einer Welt, die als Ganzes klimaneutral werden soll, greift das zu kurz. Biogas ist ein transportabler und speicherbarer Brennstoff. Er ist zu wertvoll, um Faultürme damit zu beheizen. Zudem passen Erzeugung und Verbrauch trotz des 320 m³ fassenden Gasspeichers nicht immer zusammen. Die Kläranlage braucht pro Jahr zusätzlich noch 387.000 kWh Erdgas, während zu anderen Zeiten fast ein Zehntel des Biogases ungenutzt abgefackelt werden muss.

Temperaturniveaus sind der Schlüssel

Die Projektpartner suchten also nach einer für das Gesamtsystem effizienten Lösung. Dabei sind die Temperaturniveaus ein Knackpunkt. Die Faulprozesse brauchen eine Temperatur von 38 °C. Um diese Temperatur mit dem bestehenden Wärmetauscher im Inneren des Faulturms nachweislich zu erreichen, wurde die bisherige Beheizung mit einer Vorlauftemperatur von 80°C betrieben. Gleichzeitig hat das Abwasser in der Kläranlage eine durchschnittliche Temperatur von 15°C. Diese eignet sich sehr gut, um den Temperaturbedarf der Prozesse über eine Wärmepumpe abzudecken. Da mit einer solchen Umstellung eine geringere Versorgungstemperatur einhergeht, wird jedoch eine Anpassung der Faulturmregelung sowie des bestehenden Wärmetauschers nötig, um die Zieltemperatur weiterhin zu erreichen. Durch diese Anpassungen sinkt die notwendige Vorlauftemperatur auf 55 °C. Das erlaubt einen Betrieb der Wärmepumpe bei einer Jahresarbeitszahl von 3,8. Wohn- und Betriebsgebäude werden gedämmt und ebenfalls mit der Wärmepumpe beheizt. Nur für das Warmwasser in den Gebäuden wird auf dem Gelände dann noch Hochtemperaturwärme nötig sein.
Planung und Bau der Wärmepumpe sollen im Laufe des Jahres 2022 erfolgen. In der kommenden Heizsaison wird die Kläranlage dann etwa die Hälfte der Wärme für das neue Quartier liefern können.


Gleisdorf: Abwasser-Wärme auch fürs Netz

Auch in Gleisdorf soll die Kläranlage künftig Wärme für das Fernwärmenetz liefern. Eine Abwasser-Wärmepumpe und ein BHKW, das mit Biogas aus dem Faulturm läuft, sollen zusammen 750 kW Wärmeleistung beisteuern. Weit mehr als die Hälfte der Wärme im Netz stammt schon heute aus Biomasse, rund 3,5 Prozent aus Sonnenkollektoren.
Im Gegensatz zu Kapfenberg soll in Gleisdorf aber vor allem eine Innovation in der Prozesstechnik das zusätzliche Biogas verfügbar machen. Forscher*innen von AEE INTEC wollen aus einem hochkonzentrierten Seitenstrom der Kläranlage per Membrandestillation einen Teil des Stickstoffs dem Abwasser entziehen und daraus den Dünger Ammoniumsulfat herstellen. So bleibt für die Mikroorganismen in der biologischen Reinigungsstufe der Kläranlage weniger zu tun. Damit sinkt auch ihr Bedarf an Kohlenstoff – und es bleibt mehr davon für die Biogas-Produktion erhalten. Die Membrandestillation bringt also gleich zwei Vorteile: Sie dient als zusätzliche Vorreinigungsstufe und sie steigert die Gasproduktion um 80%. Das Vorhaben ist Teil des Projekts ThermaFLEX, das von AEE INTEC koordiniert und vom österreichischen Klima- und Energiefonds im Rahmen der Vorzeigeregion „GreenEnergyLab“ gefördert wird.

Um die Wärme aus der Kläranlage zu nutzen, bauen die Stadtwerke Gleisdorf eigens eine etwa einen Kilometer lange Wärmeleitung. In den Sommermonaten werden Biogas und Wärmepumpe zusammen mit der Solarthermie den gesamten Wärmebedarf im Netz liefern. Im Winter wird die Wärmepumpe die Bandlast des Fernwärmenetzes auf niedrigem Temperaturniveau abdecken. Die Errichtung der neuen Energiezentrale und der Wärmeleitung befindet sich derzeit (Dezember 2021) in der Ausschreibung und soll 2022 errichtet werden.

Tools erleichtern komplexe Entscheidungen

Wärme, Strom, sauberes Wasser und Nährstoffrückgewinnung – wer ein Gesamtsystem optimieren will, muss viele Faktoren berücksichtigen. Dafür muss man viele Stakeholder an einen Tisch bringen. Doch auch rein technisch ist es schwer, die beste Lösung zu finden. Um die Projekte in Gleisdorf und Kapfenberg zu beurteilen, kam unter anderem das „Decision Support Tool“ aus dem Projekt AR-HES-B zum Einsatz.
Mit Hilfe von Abwasser-Daten lassen sich damit Szenarien mit verschiedenen Technologien bewerten. Das Tool bilanziert dabei jeweils Kohlenstoff, Stickstoff, Phosphor, Biogas, Wärme und Strom und erlaubt eine wirtschaftliche und ökologische Bewertung schon in der Konzeption.
Für das Beispiel Kapfenberg zeigt sich, dass diese vor allem von der Menge der verkauften Wärme abhängt. Gut 46.000 Euro soll die Fernwärme-Leitung von der Kläranlage zum Riverside-Viertel kosten. Im Gegenzug rechnet der Kläranlagen-Betreiber jährlich mit 5.100 Euro Einnahmen aus dem Wärmeverkauf bei 3 Cent pro kWh. So kommt man auf eine Amortisationszeit von weniger als zehn Jahren – selbst wenn man den in die Höhe geschnellten Gaspreis noch nicht einbezieht.

Potenzial noch lange nicht ausgeschöpft

Gleisdorf und Kapfenberg zeigen, dass sehr verschiedene Ansätze helfen können, das Biogas-Potenzial der Kläranlagen zu mobilisieren und zu nutzen. Hier sind längst noch nicht alle Synergien genutzt.
Auch das Potenzial für Wärmepumpen ist noch immens. Eine Absenkung der Abwassertemperatur um 1,5 °C und mehr ist technisch realisierbar. Das heißt, pro Liter Durchfluss kann man 6,3 kW Wärme aus dem Abwasser entnehmen. Um den Faulturm und die Gebäude zu heizen, zweigt die Anlage in Kapfenberg gerade einmal 40 Liter pro Sekunde ab.
Das Potenzial aller Kläranlagen mit mindestens 2.000 Einwohner-Gleichwerten in Österreich hat die Universität für Bodenkultur Wien untersucht. Die rund 630 Kläranlagen könnten demnach jährlich 3.200 GWh Wärme aus ihrem Abwasser entnehmen. Rund 160 von ihnen besitzen zudem Faultürme. Nutzt man das darin entstehende Biogas in Blockheizkraftwerken, könnte es zusätzlich jährlich gut 231 GWh Wärme liefern. Von den untersuchten 630 Kläranlagen befinden sich 420 in der Nähe von oder in Siedlungen – sie könnten also durchaus zum Teil einer Wärmeversorgung werden.
Betrachtet man die Systeme wirklich ganzheitlich, muss aber auch hier noch nicht Schluss sein. Wo günstige und klimafreundliche Wärme verfügbar ist, kann schließlich auch die Ansiedlung neuer Verbraucher attraktiv sein. Gewächshäuser, Aquakulturen oder Trocknungsanlagen könnten die Wärme nutzen.
So können Kommunen und Wasserbetriebe noch mehr aus dem Abwasser rausholen - nicht nur mehr Energie, sondern auch Rohstoffe und letztlich auch Arbeitsplätze und Steuereinnahmen.

Autoren: DI Jürgen Fluch und DI Wolfgang Gruber-Glatzl
j.fluch@aee.at, w.gruber-glatzl@aee.at
Jürgen Fluch ist Leiter und Wolfgang Gruber-Glatzl ist Mitarbeiter des Bereichs Industrielle Systeme bei AEE – Institut für Nachhaltige Technologien (AEE INTEC). Die Forschungsschwerpunkte sind die Digitalisierung und Dekarbonisierung der Industrie sowie Energie- und Ressourceneffizienz.


Artikel Online geschaltet von: / Doris Holler /