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© Depositphotos.com |ChinaImages | Henry Kissinger

Kissinger: «So lässt sich ein weiterer Weltkrieg vermeiden»

Der frühere US-Aussenminister schlägt Rückkehr zu den Grenzen vom 24. Februar 2022 vor. Er warnt vor modernsten Waffen.

Vor acht Jahren las Henry Kissinger Russland die Leviten, warnte aber auch vor einer verhängnisvollen Politik des Westens. Er sah den Krieg kommen. Jetzt plädiert Kissinger für einen Waffenstillstand und warnt davor, Fehler des Ersten Weltkrieges zu wiederholen. Infosperber dokumentiert seinen Artikel, den er am 17. Dezember 2022 in «The Spectator» veröffentlichte.

Niemand wollte den Eindruck der Schwäche erwecken

Der Erste Weltkrieg war eine Art kultureller Selbstmord, der die Vorherrschaft Europas zerstörte. Die europäischen Staats- und Regierungschefs schlafwandelten – um es mit den Worten des Historikers Christopher Clark zu sagen – in einen Konflikt hinein, den keiner von ihnen angezettelt hätte, wenn sie die Welt am Kriegsende 1918 vorausgesehen hätten. In den vorangegangenen Jahrzehnten hatten sie ihre Rivalität durch die Schaffung zweier Bündnisse zum Ausdruck gebracht, deren Strategien durch ihre jeweiligen Mobilisierungspläne miteinander verbunden waren. So konnte 1914 die Ermordung des österreichischen Kronprinzen in Sarajewo (Bosnien) durch einen serbischen Nationalisten zu einem allgemeinen Krieg eskalieren. Er begann, als Deutschland seinen Allzweckplan, Frankreich zu besiegen, durch einen Angriff auf das neutrale Belgien am anderen Ende Europas umsetzte.

Die europäischen Nationen, die nur unzureichend damit vertraut waren, wie die Technologie ihre jeweiligen Streitkräfte verbessert hatte, fügten sich gegenseitig beispiellose Verwüstungen zu. Im August 1916, nach zwei Jahren Krieg und Millionen von Opfern, begannen die Hauptkriegsparteien im Westen (Grossbritannien, Frankreich und Deutschland) zu überlegen, wie das Gemetzel beendet werden könnte. Im Osten hatten die Rivalen Österreich und Russland vergleichbare Fühler ausgestreckt. Da kein denkbarer Kompromiss die bereits erbrachten Opfer rechtfertigen konnte und niemand den Eindruck von Schwäche erwecken wollte, zögerten die verschiedenen Führer, einen formellen Friedensprozess einzuleiten. 

Daher ersuchten sie die Amerikaner um Vermittlung. Die Sondierungen von Colonel Edward House, dem persönlichen Gesandten von Präsident Woodrow Wilson, ergaben, dass ein Frieden auf der Grundlage eines modifizierten Status quo ante in Reichweite war. Wilson wollte zwar vermitteln, zögerte aber bis nach den Präsidentschaftswahlen im November. Doch bis dann hatten die britische Somme-Offensive und die deutsche Verdun-Offensive weitere zwei Millionen Tote gefordert.

Der Erste Weltkrieg dauerte noch zwei Jahre und forderte Millionen von Opfern, wodurch das Gleichgewicht in Europa unwiederbringlich gestört wurde. Deutschland und Russland wurden von Revolutionen zerrissen, Österreich-Ungarn verschwand von der Landkarte. Frankreich war ausgeblutet. Grossbritannien hatte einen grossen Teil seiner jungen Generation und seiner wirtschaftlichen Kapazitäten einem Sieg geopfert. 

Der Strafvertrag von Versailles, der den Krieg beendete, erwies sich als weitaus brüchiger als die Struktur, die er ersetzte.

Vergleichbarer Wendepunkt in der Ukraine?

Befindet sich die Welt heute in der Ukraine an einem vergleichbaren Wendepunkt, da der Winter gross angelegte Militäroperationen in der Ukraine erschwert oder verunmöglicht? Ich habe wiederholt meine Unterstützung für die militärischen Bemühungen der Alliierten zum Ausdruck gebracht, um die russische Aggression in der Ukraine zu vereiteln. Aber es ist an der Zeit, die bereits erfolgten strategischen Veränderungen als Grundlage zu nehmen, um Frieden durch Verhandlungen zu erreichen.

Die Ukraine ist zum ersten Mal in der modernen Geschichte zu einem wichtigen Staat in Mitteleuropa geworden. Unterstützt von ihren Verbündeten und inspiriert von ihrem Präsidenten Wolodymyr Zelenskij hat die Ukraine die russischen konventionellen Streitkräfte, die Europa seit dem Zweiten Weltkrieg bedrohen, in die Schranken gewiesen. Und das internationale System – einschliesslich China – wehrt sich gegen die Androhung oder den Einsatz von Russlands Atomwaffen.

Dieser Prozess hat die ursprüngliche Frage nach der Mitgliedschaft der Ukraine in der Nato in den Hintergrund treten lassen. Die Ukraine verfügt über eine der grössten und schlagkräftigsten Landstreitkräfte in Europa, die von den USA und ihrer Verbündeten ausgerüstet wurde. Ein Friedensprozess sollte die Ukraine in irgendeiner Form in die Nato einbinden. Die Alternative der Neutralität ist bedeutungslos geworden, insbesondere nachdem Finnland und Schweden der Nato beigetreten sind.* 

Waffenstillstands-Linie entlang der Grenzen vom 24. Februar

Aus diesem Grund habe ich bereits im Mai letzten Jahres empfohlen, eine Waffenstillstandslinie entlang der Grenzen einzurichten, an denen der Krieg am 24. Februar begann. Russland würde dann seine Eroberungen aufgeben, nicht aber das Gebiet, das es vor fast einem Jahrzehnt besetzt hatte, einschliesslich der Krim. Dieses Gebiet könnte nach einem Waffenstillstand Gegenstand von Verhandlungen sein.

Wenn die Vorkriegsgrenze zwischen der Ukraine und Russland weder durch Kampfhandlungen noch durch Verhandlungen erreicht werden kann, könnte der Rückgriff auf den Grundsatz der Selbstbestimmung erwogen werden. International überwachte Volksabstimmungen über die Selbstbestimmung könnten auf besonders geteilte Gebiete angewandt werden, die im Laufe der Jahrhunderte wiederholt den Besitzer gewechselt haben.

Das Ziel eines Friedensprozesses wäre ein zweifaches: die Bestätigung der Freiheit der Ukraine und die Festlegung einer neuen internationalen Struktur, insbesondere für Mittel- und Osteuropa. Letztendlich sollte Russland einen Platz in einer solchen Ordnung finden.

Gegen ein Vakuum in einem Russland voller Atomwaffen

Manche bevorzugen ein Russland, das durch einen fortgesetzten Krieg machtlos geworden ist. Dem stimme ich nicht zu. Trotz seiner Neigung zur Gewalt hat Russland über ein halbes Jahrtausend lang entscheidende Beiträge zum globalen Gleichgewicht und zur Machtbalance geleistet. Seine historische Rolle sollte nicht herabgewürdigt werden. 

Russlands militärische Rückschläge haben seine globale nukleare Reichweite nicht beseitigt, die es ihm ermöglicht, mit einer Eskalation in der Ukraine zu drohen. Selbst wenn diese Fähigkeit abnimmt, könnte die Auflösung Russlands oder die Zerstörung seiner Fähigkeit zu strategischer Politik sein 11 Zeitzonen umfassendes Territorium in ein umkämpftes Vakuum verwandeln:

  • Seine konkurrierenden Gesellschaftsteile könnten ihre Streitigkeiten mit Gewalt beilegen wollen. 
  • Andere Länder könnten versuchen, ihre Ansprüche mit Gewalt auszuweiten. 

Diese Gefahren sind umso grösser, als Tausende von Atomwaffen Russland zu einer der beiden grössten Atommächte der Welt machen.

Risiken von hochtechnischen, mit KI ausgestatteten Waffen

Während sich die Staats- und Regierungschefs der Welt bemühen, den Krieg zu beenden, in dem zwei Atommächte um ein konventionell bewaffnetes Land kämpfen, sollten sie auch darüber nachdenken, welche Auswirkungen die aufkommende Hochtechnologie und künstliche Intelligenz auf diesen Konflikt und auf die langfristige Strategie haben. Es gibt bereits autonome Waffen, die in der Lage sind, ihre eigenen wahrgenommenen Bedrohungen zu definieren, zu bewerten und ins Visier zu nehmen, und die somit in der Lage sind, ihren eigenen Krieg zu beginnen.

Sobald die Grenze zu diesem Bereich überschritten ist und Hightech zur Standardwaffe wird – und Computer die Hauptausführenden der Strategie werden -, wird sich die Welt in einem Zustand befinden, für den sie noch kein etabliertes Konzept hat. Wie kann die Führung Kontrolle ausüben, wenn Computer strategische Anweisungen in einem Ausmass und in einer Art und Weise vorgeben, die den menschlichen Beitrag von Natur aus begrenzt und bedroht? Wie kann die Zivilisation inmitten eines solchen Strudels widersprüchlicher Informationen, Wahrnehmungen und zerstörerischer Fähigkeiten erhalten werden?

Es gibt noch keine Theorie für diese sich ausbreitende Realität, und es haben sich noch keine Beratungsbemühungen zu diesem Thema entwickelt – vielleicht, weil sinnvolle Verhandlungen neue Entdeckungen ans Licht bringen könnten, und diese Offenlegung selbst ein Risiko für die Zukunft darstellt. Die Überwindung der Diskrepanz zwischen fortschrittlicher Technologie und dem Konzept von Strategien zu ihrer Beherrschung oder gar dem Verständnis ihrer vollen Tragweite ist heute ein ebenso wichtiges Thema wie der Klimawandel, und es erfordert Führungspersönlichkeiten, die sowohl die Technologie als auch die Geschichte beherrschen.

Das Streben nach Frieden und Ordnung hat zwei Komponenten, die manchmal als widersprüchlich angesehen werden: das Streben nach Sicherheitselementen und die Forderung nach Versöhnungsakten. Wenn wir nicht beides erreichen können, werden wir auch keines von beidem erreichen. Der Weg der Diplomatie mag kompliziert und frustrierend erscheinen. Aber der Weg dorthin erfordert sowohl die Vision als auch den Mut, ihn zu beschreiten.

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*Der Beitritt von Schweden und Finnland braucht noch einen einstimmigen Beschluss der Nato, einschließlich der Türkei.

Quelle

Der Bericht wurde von der Redaktion „INFOsperber.ch“ 2023 verfasst – der Artikel darf nicht ohne Genehmigung weiterverbreitet werden! 

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